So mitten in den schwierigsten Zeiten der Pandemie war nicht klar, wie das Wiesbadener Sinfonieorchester als Laienorchester die Krise im Kulturleben überstehen würde. Das Orchester hatte gelitten, Enthusiasmus und Mitglieder gingen verloren. Je länger dieser Zustand dauerte, desto stärker machte sich der Verlust des miteinander Musizierens bemerkbar. Ein Orchester lebt vom gemeinsamen Erarbeiten musikalischer Höhepunkte. Während der Proben erschließen sich die musikalischen Zusammenhänge, alt Bekanntes erscheint in neuem Licht. Diese Entwicklung endete unvermittelt wenige Tage vor dem geplanten Frühjahrskonzert vor drei Jahren.
Zugleich wurde deutlich, dass in vielen Bereichen der Kulturbetrieb ins Stottern geriet. Altes funktionierte nicht mehr, Neues war noch nicht gefunden. Chöre versuchten mit Hilfe von Videotechnik zu proben – mit nur mäßigem Erfolg. Für eine Orchesterarbeit war das nicht denkbar. Insbesondere die Studierenden in allen Musikbereichen konnten in dieser Zeit nur eingeschränkt ihrer Musizierpraxis nachgehen. Besonders betroffen schienen die Dirigentinnen und Dirigenten, die ein Orchester als großen Klangkörper zur Entwicklung ihrer Profession benötigen. Warum sollte das Wiesbadener Sinfonieorchester nicht ein solcher Klangkörper sein? Zudem würde es von neuen Impulsen in der musikalischen Arbeit profitieren können.
So entstand im Jahr 2022 im Orchester die Idee zur Konzertfolge „Talent dirigiert“. Im Rahmen dieser Konzertfolge stellt sich das Wiesbadener Sinfonieorchester jährlich talentierten Studierenden im Fach Orchesterdirigieren als Klangkörper zur Verfügung. Es bietet Erfahrungsmöglichkeiten für die musikalische Arbeit, für das Entwickeln konzerttauglicher Programme in Kooperation mit den Orchestergremien und für das Proben- und Konzertmanagement.
Den Auftakt zu dieser Konzertfolge bildete das letzte Konzert im März, das Moritz Dindorf von der Hochschule für Musik & Tanz Köln geleitet hat.
Moritz Dindorf, unser Dirigent für das erste Konzert, hat mit dem Wiesbadener Sinfonieorchester schon mehrfach musiziert, so als Pianist in Camille Saint Saёns Orgelsinfonie und am Saxophon in George Gershwins „Amerikaner in Paris“. Kurzfristig und ungeplant übernahm er im Dezember 2022 die musikalische Leitung für die Wiesbadener Night of Music.
So ergab sich folgerichtig, ihn als ersten Dirigenten für die Konzertfolge „Talent dirigiert“ einzuladen.
Moritz Dindorfs musikalischer Werdegang begann schon im Vorschulalter mit dem Klavierspiel. In der Schulzeit kam die Klarinette mit ihren Anverwandten als zweites Instrument hinzu. Mit dem Klavier gewann er bei „Jugend musiziert“ 2015 in Rheinland-Pfalz einen ersten Preis. Von 2015 bis 2017 spielte er Klarinette im Landesjugendblasorchester Rheinland-Pfalz und musizierte in weiteren Orchestern und Kammerbesetzungen mit Klarinette oder Saxophon. Als 14jähriger wurde er Chor-Korrepetitor und erteilte als 16jähriger privaten Klavierunterricht. Schon in der Schulzeit erhielt er die Möglichkeit, vor einem großen Schulorchester „Lihi-Stama Sinfonica“ zu dirigieren. Zwischen Abitur und Studium war er Aushilfe in diversen Orchestern, wie z.B. bei „Sinfonietta Mainz“ und dem „Sinfonieorchester Rhein-Main“ sowie Aushilfsorganist im Kirchenkreis Obere Nahe und Köln Kalk/Humboldt.
Anschließend nahm er das Studium im Fach Orchesterdirigieren bei Prof. Alexander Rumpf an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln auf. Dort ist er neben seinem Studium in Projekten und Meisterkursen als Korrepetitor, Pianist oder Dirigent tätig und seit Anfang 2022 im Orchester der Oper Köln und dem Gürzenich-Orchester für die Opernproduktion „Meister und Margarita“ engagiert. Im selben Jahr wurde er als Dozent an der Volkshochschule Köln für die „Cologne Jazzfactory“ und für das „Sinfonieorchester der VHS Köln“ verpflichtet. Bis April 2023 ist er als Assistent von Prof. Stephan E. Wehr und als Dirigent in der Opernproduktion „Il re Teodoro in Venezia“ von Giovanni Paisiello und Henze tätig.
„Für mich war von Anfang an klar, dass ich Puccinis „Preludio Sinfonico“ mit dem Wiesbadener Sinfonieorchester spielen wollte. Puccini, eigentlich ein Opernkomponist, hat seine eigene Klangsprache und klingt in vielen Fällen nach den Musikdramen Richard Wagners. Viele Klänge sind der Ouvertüre zu „Lohengrin“ sehr ähnlich, der „Tristan-Akkord“ ist ebenfalls zu hören, welchem die Wirkung des unerfüllten Liebessehnens zugesprochen wird. Mit diesem Wissen hielt ich mich an dem Stichwort „Emotion“ fest und suchte Werke, bei denen dieser Begriff musikalisch eine große Rolle spielt. Mein erster Blick fiel auf Dvořák und so entschied ich mich für dessen 8. Sinfonie in G-Dur.
Diese Sinfonie entstand, als sich Dvořák viel mit der Musik seines Zeitgenossen Tchaikovsky auseinandersetzte. Es ist sehr spannend für mich, die Bezüge der beiden Komponisten in diesem Werk zu entdecken.
Lalos Symphonie espagnole bildet den perfekten klanglichen Kontrast zu den sehr lyrischen Werken von Puccini und Dvořák. Aber auch hier dreht es sich um Folklore und Emotionen. Obwohl dieses Werk stolze fünf Sätze birgt, wirkt es sehr kurzweilig und erfüllt alles, was man sich unter dem Titel „Symphonie espagnole“ vorstellt. Gleichzeitig schafft Lalo mit seiner Komposition ein spanisches Idyll, in das man beim Hören emotional eintauchen kann.
Ich finde es immer sehr reizvoll, ein Orchester nicht nur solistisch, sondern auch begleitend zu fordern. Einen großen Klangkörper mit Solisten zusammenzubringen ist eine herausfordernde Aufgabe, die ich gerne mit David Tobin an der Solovioline angehen wollte. David Tobin lernte ich in Köln als Konzertmeister kennen und verfolgte auf den Medienplattformen seine Konzerte, die mich sehr beeindruckt haben. Er spielte schon in vielen internationalen Ensembles und in Häusern mit Rang und Namen. Seine direkte Zusage zu dem Projekt Talent dirigiert N° 1 des Wiesbadener Sinfonieorchesters hat mich sehr gefreut, sodass ich ihn als idealen Solisten für die Symphonie espagnole sehe.
Neben einem dramaturgischen Bogen im Konzertprogramm war außerdem mein Wunsch, dass das Wiesbadener Sinfonieorchester mit der Werkauswahl die Möglichkeit bekäme, viele musikalische und technische Facetten zeigen zu können.“